Neuss

Ich muss hier jetzt mal Klartext reden. Vorneweg: Ich arbeite als Arbeitsvermittlerin in einem Jobcenter.

Wir Jobcenter-Mitarbeiter sind, so bin ich der Meinung, eine völlig verkannte Spezies. Klar gibt es Ausnahmen, die ihren Ruf des unhöflichen, ständig rauchenden, Kaffee-trinkenden und anti-empathischen Mitarbeiters verdienen. Ich kenne auch ein paar Kollegen dieser Art. Aber meist sind wir höflich (auch wenn man ab und an dabei die Zähne zusammenbeißen muss). In Ausnahmefällen wird auch mal jemand höflich aus dem Büro komplementiert (oder das Telefongespräch beendet).

Ab und an bekomme ich auch von Kunden zu hören, dass sie gar nicht erwartet hatten, so nett behandelt zu werden. Mein Standard-Satz: Wir sind gar nicht so schlimm, wie alle immer behaupten. Es geht auch im Folgenden bei weitem nicht um alle meine Kunden. Nicht mal einen Großteil. Viele wollen arbeiten, sind nett und höflich und ich arbeite ganz gerne mit ihnen zusammen. Diese Kunden sind hier nicht gemeint!

Warum wir trotzdem so schlimm sind? Immerhin arbeiten wir schlicht nach gesetzlichen Vorlagen. Beispiel: Sanktionen (Leistungskürzungen auf Grund von Pflichtverletzungen seitens der Kunden) sind willkürlich?

Nein.

Jeder Sanktion geht eine sogenannte Rechtsfolgenbelehrung vorneweg. Der Kunde weiß also, was passiert, wenn er sich z.B. nicht bewirbt. Danach fragen wir nochmals nach, ob es einen wichtigen Grund (ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit, Allergie gegen verwendete Arbeitsmaterialien o.ä.) gegeben hat. Das ist die sogenannte Anhörung. Sollte kein wichtiger Grund nachgewiesen werden, wird sanktioniert. Und sollte ein Verstoß ohne wichtigen Grund vorliegen, haben wir gar nicht die Wahl! Beschwerden  über das System bitte direkt an Frau von der Leyen (derzeit für die Gesetzgebung in diesem Bereich verantwortlich) und den Bundestag.

Aber nein! Wir werden angepöbelt, angeschrien (teilweise wöchentlich telefonisch vom gleichen Kunden jeden Freitag kurz vor 12 Uhr), beleidigt und bedroht. Letzteres verlief bislang zumeist in der Form „Ich wende mich an die Bild-Zeitung/die Politik/meinen Anwalt“. Das sind wir gewohnt. Ab und an wird es aber auch persönlich.

Ein Kunde hat mich mal so lange am Telefon angeschrien, bis ich nach einer kurzen Warnung einfach aufgelegt habe. Er rief relativ verwirrt wieder an und fragte, was das denn solle. Ich habe ihm dann erläutert, dass es nicht zu meinem Job gehört, mir 1.) einen Hörschaden zuzulegen und 2.) mich persönlich beleidigen zu lassen für Regelungen, die ich nicht aufgestellt habe, sowie seine eigene Vergesslichkeit (stellt man keinen entsprechenden Antrag, muss man sich nicht wundern, wenn man das Gewünschte nicht bekommt) und ihm dann kurz zwischenmenschliche Benimmregeln erläutert. Danach war er etwas kleinlaut und wir konnten uns mit seinem Problem befassen. (Vielen Dank an meine Schwester für den Tipp! Funktioniert großartig!) Immernoch standard.

Warum heisst dieser Text nun Neuss?

Ich weiß nicht, ob es alle mitbekommen haben, aber am 26.09.2012 ist im Jobcenter Neuss eine Kollegin erstochen worden. (Spiegel-Online-Bericht) Der genaue Tathergang ist unklar. Nur, dass sie gar nicht für den Kunden zuständig war, ihn noch gar nicht kannte. Sie hatte für einen Kollegen übernommen, der nicht mehr dort arbeitet. Und nun ist sie tot. Der Kunde hatte sich wegen eines Formulares aufgeregt und sei wütend und mit zwei Messern bewaffnet ins Jobcenter gekommen. Ihre Familie trauert und ganz Deutschland ist schockiert.

Ganz Deutschland? Nein! Eine erstaunliche Anzahl unserer Kunden ist anscheinend auf der Seite des Täters. Seit dem 26.09.2012 steigt die Anzahl der Gespräche (persönlich wie telefonisch) und Schriftstücke, in denen wir neben anderweitigen Beleidigungen und Bedrohungen darauf hingewiesen werden, dass wir uns bei unserer Arbeitsweise nicht wunderrn müssten, über das, was da in Neuss passiert ist. Oder wir sollten aufpassen, dass uns so etwas nicht eines Tages auch passiere. Auch Aussagen wie „war schon richtig“, „ist nachvollziehbar“ oder ähnliches sind uns schon untergekommen. Jüngst ist selbst die Anwältin (!) einiger unserer Kunden auf den Zug aufgesprungen. Zwar hat sie uns ihre Meinung nur durch die Blume kundgetan, aber der Zusammenhang wurde uns durchaus klar.

Vor einigen Tagen wurde nun einer meiner Kollegen am Telefon derart bedroht, dass es dem ganzen Jobcenter flau wurde. Die Liste der Zitate, die er mitgeschrieben hatte gingen von „Fick Deine Mutter!“ über „Willst Du privat Ärger mit mir?“ bis „Bei Euch ist noch niemand umgebracht worden. Noch nicht!“ Die Angelegenheit wurde später durch den Chef geregelt.

Liebe Kunden, Anwälte und andere Stammtisch-Polemiker:

HALLO! GEHT’S NOCH????? Die Tat in Neuss ist durch nichts, aber auch GAR NICHTS, zu entschuldigen. Nichts berechtigt einen Mneschen dazu, einen anderen Menschen einfach umzubringen! GAR NICHTS!

Wir sind Menschen! Menschen, die nach gesetzlichen Regelungen handeln und auch ab und an mal einen Fehler machen. Menschen, die überarbeitet sind, weil sie teilweise von Anträgen, Anrufen und Nachfragen nur so überflutet werden und trotzdem noch für diejenigen, die Hilfe brauchen, alles erdenkliche versuchen. Menschen, die Familien haben und Freunde. Wenn Ihr mal nicht kriegt, was Ihr gerne hättet (Umschulung, Auto, Führerschein, etc. durch den Steuerzahler finanziert), dann ist es eben manchmal so! Ich hab auch kein neues Auto und meine Familie und ich mussten für meine Ausbildung auf einiges verzichten. Deshalb habe ich noch lange nicht die Mitarbeiterin der BAföG-Stelle angeschrien oder bedroht! Schon gar nicht mit dem Leben! Legt von mir aus Widerspruch ein oder fragt höflich, woran es denn gelegen haben könnte.

Die anderen Mitarbeiter der Jobcenter in ganz Deutschland nun derart zu beleidigen und zu bedrohen, ist ebensowenig gerechtfertigt wie die Tat selber! Oder sollen wir demnächst damit anfangen: „Entweder Sie erscheinen zu dem Vorstellungsgespräch oder ich breche Ihnen die Beine!“ ???

Leute: Überlegt doch bitte mal kurz, was Ihr da sagt bzw. schreibt! Ihr wollt doch auch, dass wir vernünftig mit Euch umgehen (und ich rede hier nicht von den gesetzlichen Regelungen, sondern von der rein zwischenmenschlichen Seite). Ich bin erschrocken und beschämt, dass einige Menschen so keinerlei Respekt vor uns und vor allem dem Opfer und ihrer Familie haben!

Bei jeder Bedrohung oder Äußerung der Tat in Neuss denke ich an das Opfer. Wahrscheinlich hat auch sie immer gedacht „der/die regt sich schon wieder ab“ und nicht weiter darüber nachgedacht. So wie wir alle. Und jetzt muss ihr Mann damit klarkommen, dass seine Frau tot und er alleinerziehender Vater ist. Warum? Anscheinend hat der Täter sich Sorgen gemacht, weil er ein Formular zu Weitergabe seiner Daten ausgefüllt hatte. (Quelle: Pressekonferenz der Polizei und Staatsanwaltschaft am 27.09.2012)

Dieser Beitrag wurde unter Hmmmm veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar